Ich lese im Netz hauptsächlich Online-Medien aus der alten Heimat. Ich nehme am Sozialleben meines neuen Landes kaum teil. Abgesehen vom Freitag-Bier mit den ArbeitskollegInnen beschränke ich mich auf mein Privatleben in Haus und Garten. Ich halte Kontakt in mein Herkunftsland und fühle mich wohl, wenn ich meine Sprache sprechen kann. Es kommt mir seltsam vor, die neue Sprache zu sprechen. Sie geht mir auch schwer von der Zunge. Ich kann kaum die
Vokabeln, obwohl ich fast ein Jahr hier bin. Nur "Jetzetle" sage ich gern, muss dabei aber lachen.
Die Demonstrationen vor meiner Tür, unten am Bahnhof, gehen mich nichts an. Ich mische mich hier nicht ein, ich bin nur zu Gast. Diese Kämpfe sind nicht meine. Die O-Töne in der Berichterstattung finde ich lächerlich. "Ihr habt keine Ahnung", will ich sagen, "wir haben das Ganze schon vor zehn Jahren durchgemacht, als Schwarz-Blau an die Regierung kam." Davon würde ich gern erzählen, aber die Gelegenheit ergibt sich nicht, es weiß auch niemand davon, was damals war. Eine Rentnerin sagt, sie würde wegziehen, wenn der Bahnhof wirklich gebaut würde. Ich halte das für dummes Geschwätz. Dann fällt mir ein, dass ich weder Wasserwerfer noch Prügel noch Tränengas jemals erlebt habe. Versäume ich hier den Anbruch der neuen Zeit?
gingerbox - 8. Okt, 22:14
Aperitiv im Stehen. Drei der vier geladenen Paare haben Wein als Gastgeschenk mitgebracht, auch wir. Der Gastgeber des heutigen Abendessens steht neben mir, zwei Köpfe größer als ich, und erzählt, wie er einmal alle früheren Mitbringsel geöffnet und verkostet hat. "Ein schrecklicher Abend! Das war alles ungenießbar! Wir haben Flasche um Falsche weggekippt!" Einer der Männer fragt nach, ob man sie zu lang gelagert habe oder ob es an der Qualität lag. "An der Qualität! Das war alles Mist! Leider wusste ich nicht mehr, von wem die Flaschen waren. Diesmal merke ich es mir, also sehen Sie sich vor!"
Hahaha, ja - köstlich! Die Männer stehen beim Gastgeber in Lohn und Brot und lachen beflissen, wir Frauen grinsen gequält, mehr wird von uns an diesem Abend auch nicht erwartet. Den Männern ist in den nächsten Stunden die Aufgabe zugewiesen, zu den Monologen des Gastgebers witzige Einwürfe anzubringen oder stumm Interesse zu signalisieren. Dabei kommt es immer wieder zu unangenehmen Momenten, wenn sich Konkurrenz bemerkbar macht und das Ganze die Dramaturgie einer Unterrichtsstunde im Eliteinternat annimmt. Bald bin ich so gelähmt und so geladen, dass es mir nicht einmal gelingt, mit der ebenfalls mitgebrachten Ärztin mir am Tisch gegenüber Kontakt aufzunehmen oder gar ein Gespräch zu beginnen. Ihr scheint es ähnlich zu gehen. Niemand richtet auch nur eine einzige Frage an uns.
Wein und Weinkeller. Kitesurfen in Mosambique. Skifahren und Knieprobleme. Segeln. Sport. Mit einem Wort: Unser Gastgeber ist ein toller Hecht. Wir sitzen schon alle am Tisch, als die Frau wieder hereinkommt, die heute für den Service zuständig ist. Während sie arbeitet, stellt er sie uns vor. "Zwischen unseren Familien besteht schon lang eine Verbindung", sagt er, und ich übersetze es mir im Stillen: Ihr Vater hat schon meinen Vater bedient.
Zum Kaffee werden wir ins Wohnzimmer gebeten. Dort hängt über dem Kamin ein riesiges gemaltes Bildnis der Familie, der Gastgeber und sein Sohn jeweils mit Geige, Mutter und Tochter am Klavier. Ich halte die Luft an und stopfe mir eine der Pralinen in den Mund, die auf kleinen Silbertabletts im Raum herumstehen. Der Schinken wurde nach Fotografien gemalt, erfahren wir, natürlich musste man nicht tagelang sitzen. Anschließend wird uns die Geschichte des Hauserwerbes mitgeteilt: Damals noch "Student" in München, entschloss der heutige Hausherr sich "spontan", dieses Haus zu erwerben, das dem verstorbenen Onkel eines Freundes gehört hatte. Dafür musste er die Wohnung in seinem Elternhaus, die ihm bereits gehörte, an seinen Vater "zurückverkaufen", zu einem guten Preis, wie wir erfahren, denn der Vater unterstützte den Sohn, aber er wurde beileibe nicht über den Tisch gezogen.
Hinter dem Sofa, auf dem wir etwas unbequem flätzen, steht der Flügel, den wir schon von dem Gemälde kennen. Der Gastgeber teilt uns die Qualitäten dieser Marke mit, eine Viertelstunde später liegen die Männer unter dem Klavier, um sich von der ausgefeilten Bauweise des Unterbodens beeindrucken zu lassen. Die Frauen bleiben stehen, es werden noch immer nicht einmal Blicke gewechselt, man nimmt das Einvernehmen ohnehin auch aus dem Augenwinkel heraus wahr. Die Dame des Hauses zupft währenddessen am Seidenvorhang, um eine Steckdose vor den Blicken der Gäste zu verbergen.
Sie ist das kleine Rätsel dieses an Rätseln so armen Abends. Groß, schlank, blondiert, aber im Alter ihres Mannes, bewegt sie sich mit einer unbeeindruckten Selbstverständlichkeit in ihrem Haus. Wir wissen nichts über ihre Herkunft, wenig darüber, was sie arbeitet, aber ihre knochentrockene Bodenständigkeit ist eine Wohltat. "Wie peinlich, ich trage heute das selbe wie auf dem Bild", darauf hatte sie die Runde hingewiesen, während wir im Angesicht des Familienporträts noch um Fassung rangen. Warum man mit einem so lauten Prinzen leben will, wie man jemanden erträgt, dessen gesamte Existenz davon geprägt ist, die Welt als persönlichen Spielplatz und seine Mitarbeiter als Leibeigene aufzufassen - es wird an diesem Abend nicht klarer als bei früheren Gelegenheiten. Sie macht Small Talk, weil es zu ihren Aufgaben gehört, aber in den großen Augen und den angeborenen hängenden Mundwinkeln ist sichtbar, dass sie sich den Abend auch anders vorstellen könnte. Trotzdem ist die Loyalität natürlich bruchlos.
Wir waren noch nicht einmal beim Dessert, als ich mir schon die E. herwünschte. Die hätte den Abend aufgemischt, das weiß ich, und sich nicht so in die Ecke stellen lassen wie ich. - Das erzähle ich dem H., als wir endlich die paar hundert Meter nach Hause spazieren. Er hat es etwas anders erlebt, ist nicht unbeeindruckt geblieben von der Emotionalität, die der Gastgeber, sein Chef, sich erlaubt. Trotzdem sitzen wir beide gleichermaßen erleichtert auf der Terrasse und rauchen noch eine, bevor wir ins Bett gehen, in unserem rumpeligen Haushalt mit den ausgewachsenen Pflanzen im Garten und den Katzenhaaren überall. Was bin ich froh, dass die Zeiten des Großbürgertums vorbei sind, denke ich. Dennoch bleibt meine Stimmung noch für mehrere Tage angeschlagen.
gingerbox - 21. Aug, 19:26
Ach ja, übrigens bin ich jetzt Vegetarierin. Ich hatte es nicht vor, aber das Thema Fleischessen tauchte immer wieder in meinem Blog-Lektüre-Portfolio auf. Außerdem war ich doch ungeduldig, wollte das Erscheinen der Übersetzung von Jonathan Safran Foers "Eating Animals" nicht abwarten und habe mir die englische Ausgabe gekauft. Und jetzt bin ich Vegetarierin. Schau di au.
JSF macht das ja sehr gut. Das ganze Buch ist hoch emotional, aber die Kernbotschaft streng sachlich: Es gibt so und so viele Gründe, die gegen das Fleischessen sprechen (er zählt sie alle auf und malt sie aus), und nur einen dafür - dass es lecker schmeckt. Am Ende des Buches ist es für mich undenkbar gewesen, mich anders zu entscheiden oder auch nur so zu tun, als wäre diese Entscheidung unnötig.
Wie muss das Buch erst auf Leute wirken, die JSFs kulturellen Hintergrund teilen? Seine Großmutter ist als Jüdin den Nazis entkommen, hat auf der Flucht gehungert und große Not gelitten, und so existenziell es für sie ist, ihren Lieben Essen zu geben, so schwierig und schmerzhaft ist es für JSF, dieses Essen zurückzuweisen. Ein anderes Thema, auf das er viel Zeit verwendet, ist die US-amerikanische Institution des gemeinsamen Thanksgiving-Essens, das sich ganz grundlegend um den Truthahn am Tisch dreht. In seiner Beschreibung, eher: Beschwörung des Geistes von Thanksgiving liegt so viel Pathos und Herzblut, dass ich mir wünschte, auch ein solches Fest zu haben, an dem die Familie (wer auch immer dazugehört) ohne religiösen Vorwand zusammenkommen, sich den Wanst vollschlagen und erzählen kann.
Es war bewegend, von all dem zu lesen, und es hat mir einmal mehr klar gemacht, wie grundkatholisch ich geprägt bin und wie magisch deshalb mein Verhältnis zu Essen ist. "Das Gute kommt über den Mund zu uns, und es kommt zu uns in Gestalt von Fleisch." - Mit diesem Satz konnte ich alles plötzlich zusammenfassen, den Katholizismus, mein Essen bisher, die Tatsache, dass ich aus mir selbst heraus nie das Fleischessen aufgegeben hätte, und die archaische Unruhe, die vor dem Einschlafen in mir rumorte, während ich das Buch las: Plötzlich machte ich mir Sorgen um meine Potenz. Hieße das Fleischessen aufzugeben nicht auch, das Leben als Ganzes zurückzuweisen? Zum Glück tauchte dann ein anderes Bild auf: die scharfen Kanten der Rationalität, denen ich in Wahrheit jedes Erlebnis von Genuss verdanke. So lässt sich's leicht vegetarisch sein.
gingerbox - 5. Aug, 22:08