Alle Toten fliegen hoch
Es war ein raues, räudiges Jahr, mein erstes Jahr in Stuttgart, anstrengend und ortlos, mit aller Kraft um Kontrolle bemüht. Allein im ersten Halbjahr bin ich zehnmal zwischen Stuttgart und Österreich gependelt. Ich war in Istanbul, in Zürich, im Schwarzwald, im Böhmerwald. Ich habe einen neuen Beruf gelernt, eine Ausbildung abgeschlossen, einen Job gekündigt, einen neuen gefunden. Ich habe aufgehört, Tiere zu essen, ich habe so wenig geraucht, getrunken und geschrieben wie seit Jahren nicht mehr. Ich habe eine Häkelarbeit begonnen und sie bis jetzt noch nicht fertiggestellt. Ich schreibe nicht mehr klein.
Im April haben wir H.s Vater begraben. Er hat sich für die Feier die Beatles gewünscht. Nachdem H. seine Rede gehalten und der Priester seinen Zauber veranstaltet hatte, saßen wir da in der Abschiedshalle und hörten die scheppernden Bläser von "All you need is love". Ich muss heute noch grinsen und könnte heute noch heulen.
Im Oktober ist meine Oma gestorben, kaum beweint, aber in Frieden gegangen. Im Sommer, als meine Mutter im Krankenhaus war, habe ich mich um Oma gekümmert, mit ihr gekämpft, ihre rasende Wut, ihre Sturheit und ihre falschen Dramen erlebt. Aber auch die stillen Momente der Hilflosigkeit, wenn sie müde und schwach auf dem Bett saß und ins Leere schaute, ein einsames Mädchen, das sich selbst nicht kennt und vielleicht niemanden kannte ihr ganzes Leben lang. Zum Schluss hat sie sich mit meiner Mutter versöhnt und sich bei meiner Schwester und mir entschuldigt: "Es tut mir leid." - Ich wollte es hören: "Was tut dir leid?" - "Für euch." - "Das ist schon in Ordnung", habe ich gesagt. Natürlich war nichts in Ordnung. Aber manchmal reicht es vielleicht auch, die Tür hinter sich zu schließen und das Chaos zu verlassen. Ich denke nicht böse an sie.
Neu anfangen. 2010 war auch das Jahr, in dem ich das Zusammenleben mit einem Partner kennen gelernt habe. Der H. hatte seinen eigenen Kummer, mit seiner Familie und im Job. Aber erst jetzt wird mir klar, wie viel Halt er mir gegeben hat und wie viel schwieriger alles gewesen wäre, wenn er nicht so wäre, wie er ist. Wir sind einander sofort Zuhause geworden, und auch wenn wir uns zum Teil vor Stuttgart versteckt haben, hat mir das keine Sorgen gemacht: Wir werden die Stadt schon noch entdecken, wenn wieder mehr Kraft und mehr Hirn frei dafür sind. Für uns beide überraschend haben uns unsere Toten den Gedanken an Kinder hinterlassen, der 2010 zwischen all den Krankenhausbesuchen und Trauerfeiern, aus all dem Abschiednehmen entstanden ist. Weil nicht immer nur was enden, sondern auch was anfangen soll. Die Idee macht mir Freude, aber ich glaube nicht so recht daran.
Heute finde ich anderes wichtiger: was aus mir wird, zum Beispiel. Ob ich noch Talente habe, die ich entwickeln will. Wie das beruflich weitergehen kann. Ob ich es mir zu leicht mache, die falschen Entscheidungen getroffen habe, ob ich etwas erschaffen kann. Das neue Jahr zeigt noch nicht, was es bereithält. Und ich bin älter geworden, das Warten und Kommenlassen macht mich unrund.
Ich will ein bisschen die Prioritäten verschieben, ja. Freundschaften wieder aufnehmen, die im vergangenen Jahr gelitten haben, denn bis auf meine drei Mädels in Wien habe ich alle vernachlässigt. Mich an neue Freundschaften herantrauen, Interesse riskieren. Und das Schreiben hat mir sehr gefehlt 2010. Eigentlich einfache Dinge.
Ich bin zuversichtlich.
Und das wünsche ich Euch auch. Habt alle ein wunderbares 2011.
Im April haben wir H.s Vater begraben. Er hat sich für die Feier die Beatles gewünscht. Nachdem H. seine Rede gehalten und der Priester seinen Zauber veranstaltet hatte, saßen wir da in der Abschiedshalle und hörten die scheppernden Bläser von "All you need is love". Ich muss heute noch grinsen und könnte heute noch heulen.
Im Oktober ist meine Oma gestorben, kaum beweint, aber in Frieden gegangen. Im Sommer, als meine Mutter im Krankenhaus war, habe ich mich um Oma gekümmert, mit ihr gekämpft, ihre rasende Wut, ihre Sturheit und ihre falschen Dramen erlebt. Aber auch die stillen Momente der Hilflosigkeit, wenn sie müde und schwach auf dem Bett saß und ins Leere schaute, ein einsames Mädchen, das sich selbst nicht kennt und vielleicht niemanden kannte ihr ganzes Leben lang. Zum Schluss hat sie sich mit meiner Mutter versöhnt und sich bei meiner Schwester und mir entschuldigt: "Es tut mir leid." - Ich wollte es hören: "Was tut dir leid?" - "Für euch." - "Das ist schon in Ordnung", habe ich gesagt. Natürlich war nichts in Ordnung. Aber manchmal reicht es vielleicht auch, die Tür hinter sich zu schließen und das Chaos zu verlassen. Ich denke nicht böse an sie.
Neu anfangen. 2010 war auch das Jahr, in dem ich das Zusammenleben mit einem Partner kennen gelernt habe. Der H. hatte seinen eigenen Kummer, mit seiner Familie und im Job. Aber erst jetzt wird mir klar, wie viel Halt er mir gegeben hat und wie viel schwieriger alles gewesen wäre, wenn er nicht so wäre, wie er ist. Wir sind einander sofort Zuhause geworden, und auch wenn wir uns zum Teil vor Stuttgart versteckt haben, hat mir das keine Sorgen gemacht: Wir werden die Stadt schon noch entdecken, wenn wieder mehr Kraft und mehr Hirn frei dafür sind. Für uns beide überraschend haben uns unsere Toten den Gedanken an Kinder hinterlassen, der 2010 zwischen all den Krankenhausbesuchen und Trauerfeiern, aus all dem Abschiednehmen entstanden ist. Weil nicht immer nur was enden, sondern auch was anfangen soll. Die Idee macht mir Freude, aber ich glaube nicht so recht daran.
Heute finde ich anderes wichtiger: was aus mir wird, zum Beispiel. Ob ich noch Talente habe, die ich entwickeln will. Wie das beruflich weitergehen kann. Ob ich es mir zu leicht mache, die falschen Entscheidungen getroffen habe, ob ich etwas erschaffen kann. Das neue Jahr zeigt noch nicht, was es bereithält. Und ich bin älter geworden, das Warten und Kommenlassen macht mich unrund.
Ich will ein bisschen die Prioritäten verschieben, ja. Freundschaften wieder aufnehmen, die im vergangenen Jahr gelitten haben, denn bis auf meine drei Mädels in Wien habe ich alle vernachlässigt. Mich an neue Freundschaften herantrauen, Interesse riskieren. Und das Schreiben hat mir sehr gefehlt 2010. Eigentlich einfache Dinge.
Ich bin zuversichtlich.
Und das wünsche ich Euch auch. Habt alle ein wunderbares 2011.
gingerbox - 2. Jan, 15:08
0 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
Trackback URL:
https://liquidcenter.twoday.net/stories/11550459/modTrackback