Donnerstag, 22. Mai 2008

der lehrer, 1983

Als Kind war ich überzeugt, dass mein Lehrer meine Gedanken lesen kann. Er war ein gewalttätiger, brutaler Mensch, war aber aufgrund seiner für die Verhältnisse des Dorfes überdurchschnittlichen Bildung de facto unantastbar. Vielleicht lag es aber auch nur an seiner Brutalität, die die Dorfleute mit Lust genossen, auch wenn sie es nicht zugaben, vielleicht hätte er ganz ungebildet, roh bis zur Lächerlichkeit sein können und sie hätten ihn trotzdem geachtet, einfach weil er der Dorflehrer war, weil er herumschrie und ihre Kinder schlug.

Einmal kam die Mutter einer Klassenkollegin zu ihm in die Sprechstunde. Das Mädchen hatte geweint daheim, den Grund weiss ich nicht mehr, denn er gab jeden Tag viele Gründe, jedenfalls stand diese Frau, die mächtigste Bäurin des Orts, die damals schon mit ihrem Mann überteuerte und feuchte Wohnungen an hilflose Gastarbeiter vermietete, die sich über Ausländer ausließ und ganz vorne in der Kirche saß, stand also diese Frau vorsichtig und kriecherisch lächelnd im dunklen Konferenzzimmer und bat, sie wisse, ihre Tochter habe eben irgendetwas getan oder vergessen, es werde nie wieder vorkommen, das verspreche sie, um ein bißchen Rücksichtnahme. Das Mädchen habe doch so geweint.

Er versprach es ihr. Am nächsten Morgen holte er das Mädchen hinaus an die Tafel und fing sofort an, sie anzuschreien und lächerlich zu machen. Das Mädchen stand vorne, klammerte sich mit beiden Händen an ihre Hosennähte und fing dann doch zu weinen an. Der Lehrer schrie noch lauter und lachte sie aus, „die Trenzn, das Mensch, das Mamakind“, und wann er dann aufhörte und wie es endete weiß ich nicht mehr, aber es muss ja irgendwann aufgehört und irgendwie geendet haben, denn sonst säßen wir alle noch immer im Klassenzimmer und hörten zu, wie der Lehrer das Mädchen erniedrigt.

Geschlagen wurden nur die Buben. Es waren weniger Ohrfeigen, die der Lehrer ihnen gab, als grobe Rempler, ein kräftiger, wütender 50jähriger packt den Körper eines achtjährigen Buben am Kragen seines billigen Pullovers, schüttelt ihn und schleudert ihn zornig von sich, so dass das Kind rücklings über die kleinen Kinderschulsessel fällt, den Kopf schlägt es sich gerade noch nicht an der Bank hinter ihm, aber die Sessel kippen auf das Kind, es muss seine Glieder sortieren, mit gelblackierten Sprossen verkeilte Beine und Arme.

Dieser Bub war fehlsichtig und hatte eine dicke Brille, was ihn immer irgendwie verdutzt aussehen ließ, auch an diesem Nachmittag, die Haare wie immer zerzaust, noch mehr durch den Sturz, und die Augen abgewandt, als er sich aufrappelte, um nicht die Rage des Lehrers durch einen Blick noch einmal wachzurufen oder besser zum Ausbruch zu bringen, denn er wusste auch ohne hinzusehen, was wir sahen, dass nämlich die Wut des Lehrers noch da war und nur innehielt und ihr nächstes Ziel erwartete.

Früher sei er noch schlimmer gewesen, sagten die Erwachsenen. Früher war der Lehrer jung und ständig geladen, alles konnte ihn zum Ausrasten bringen, vor allem Dummheit, auch Faulheit, die Angst der Kinder, kleinste Fehler dienten als Vorwand. Als er unser Lehrer wurde, war er schon älter und zynischer, die Abwertung erfolgte verbal, die Schläge waren seltener als früher, so sagte man zumindest. Auch der Alkohol wirkte dämpfend auf ihn.

Ein anderes Mädchen, wir waren sieben oder acht Jahre alt, schrie er minutenlang an, weil sie an einem heißen Tag während der Stunde die Socken auszog. Die Tränen standen ihr in den Augen, aber sie traute sich nicht zu weinen. Aber mich hat er geliebt, denn ich war die beste Schülerin der Klasse, auch von den Buben war keiner besser als ich.

Damals gab es noch ein Fach namens „Heimatkunde“. An einem Wintertag ließ der Lehrer hektografierte Abzüge vom Umriss unseres Ortes durchgeben. Jedes Kind hatte sich einen Abzug zu nehmen und ins Heft zu kleben, dann würden wir gemeinsam die Ortsteile einzeichnen, die wichtigen Punkte markieren und beschriften und so etwas lernen.

Die Umrisse unseres Ortes waren charakteristisch, wie wir schnell merkten. Sie erinnerten an den Kopf eines Mannes mit Spitzbart im Profil. Die Kinder in der ersten Reihe lachten schon und schrieen es heraus, die Reihen dahinter wurden immer ungeduldiger. Endlich hatte auch ich ein Blatt in der Hand. Ich freute mich, schnitt das Blatt zurecht, um es ins Heft kleben zu können, drehte es um, öffnete die Klebstofftube, trug eine dünne Spur Klebstoff an den Rändern auf, drehte das Blatt erneut, diesmal noch vorsichtiger, wieder um, legte es langsam auf die leere Heftseite, strich es glatt, klebte eine lose Ecke noch extra fest, strich noch einmal darüber, legte dann die Hände links und rechts neben das Heft und sah, dass ich den Kopf des Mannes verkehrt eingeklebt hatte. Das Blatt stand auf dem Kopf. Der Spitzbart zeigte nach Norden.

Ich weiß nicht mehr, ob mir heiß geworden ist oder flau im Magen. Ich weiß nur, dass ich nicht wagte, meinen Fehler zu bekennen. Irgendwie muss ich das Heft umgedreht haben, um gemeinsam mit der Klasse die Eintragungen zu machen. Dann wurden die Hefte abgesammelt.

Während der nächsten drei Tage spielte ich wie üblich nach der Schule mit den Kindern der Nachbarn, sah fern, las ein bisschen und versuchte, nicht zu denken. Am dritten Abend saß ich allein in der Küche, und hinter dem Haus ging die Sonne unter und leuchtete blass durch die niedrigen Fenster, als ich mir wünschte, der Lehrer würde sterben. Dieses Gefühl, dass er einfach nicht existierte, dass er nie mehr existieren würde, sondern dass ich unbeschwert, unbeobachtet war, war wunderbar und erfüllte mich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Bewusstsein von Freiheit und Knechtschaft zugleich. Ich fühlte, wie es wäre, frei zu sein, welch ein Glück es wäre. Und ich fühlte, dass ich gebunden war. Dass es keinen Ausweg gab. Und dass ich schuldig war, ihm den Tod gewünscht zu haben, wofür er mich bestrafen würde.

Ich sah aus dem Fenster. Hinter dem Haus lag ein kleiner, stinkender Fischteich, so seicht, dass ihn nur das durchfließende Rinnsal vor dem Zufrieren bewahrte. Und da draußen schwebte der Geist meines Lehrers, da draußen war er und wusste, dass ich mir seinen Tod wünschte. Sein Körper war in der Schule, aber sein Geist war überall, wo immer ich war. Die Mauern meines Elternhauses konnte er nicht durchdringen, aber meine eigenen Gedanken waren stark und unkontrollierbar, mit meinem Blick waren sie durch das Fenster hinaus geflogen, und dort hatte sie der Geist meines Lehrers erkannt. Einen Augenblick nur hatte das gedauert. Wie man einen Lichtschalter umlegt, so knipste ich meine Gedanken aus.

Am nächsten Tag war wieder Heimatkunde. Ich erwartete mein Urteil. Die Hefte wurden ausgeteilt, alle fingen an zu blättern. Ich fand die Seite. Neben dem in den Himmel ragenden Spitzbart stand mit der gut leserlichen Schrift des Volksschullehrers:
Verkehrt eingeklebt!
Nicht mehr. Der Rest war als in Ordnung beurteilt worden. Ich atmete aus und lächelte.

Ein halbes Jahr später führte er uns am Wandertag auf den nahegelegenen Berg, wo auf den Ruinen einer römischen Basilika eine kleine Kirche errichtet worden war. Der Tag war heiß. Mit großen Schritten bestieg er den Hügel, wir Kinder hinterdrein. Der Staub der Forststraße klebte uns in den verschwitzten Gesichtern. Ich war ein unsportliches Kind und schritt konzentriert vorwärts.

Nach einer dreiviertel Stunde waren wir oben im blanken Licht der Mittagshitze und rasteten. Im der Kirche angeschlossenen Wirtshaus kauften sich einige Kinder Almdudler, die meisten packten ihre mitgebrachte Jause aus, aßen und tranken und fingen bald zu spielen an.
Der Lehrer setzte sich abseits, ohne uns zu beachten. Eine zweite Klasse war dabei, die junge Lehrerin kümmerte sich um alles.

Ich spielte nicht, sondern saß allein und erwartungsvoll herum. Die Kinder waren dumm und oberflächlich. Mein Lehrer, ein gebeugter, einsamer Mann. Ich erhob mich und ging zu ihm hinüber, setzte mich so nahe ich aushalten konnte neben ihn, zwei Meter waren wohl zwischen uns, vielleicht auch weniger, ich war ein kleines Kind und nahm Entfernungen anders wahr, als eine Erwachsene es tut.

Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau. Er bemerkte mich, sah mich kurz an, aber auch ob er mich ansprach, weiß ich nicht mehr. Sicher redeten wir nicht viel, ganz sicher nichts von Bedeutung. Ich weiß nur, dass ich mich ihm sehr verbunden fühlte, ich glaubte, dass er es auch fühlte, und ich weiß heute, dass ich ihn begehrte. Wir waren uns ähnlich in unserer Einsamkeit. Mich als einzige ließ er daran teilhaben. Wir beide waren klüger als alle anderen, das war unsere Tragik.

Irgendwann stand ich wieder auf und ging weg.

Ein, zwei Jahre später, ich ging schon ins Gymnasium, sah ich ihn noch einmal. Meine Familie war im Dorfwirtshaus, um einen Geburtstag zu feiern, da stand er plötzlich im Türrahmen, besoffen und wütend, dozierte und schrie. Schon bei seinem Anblick packte mich wieder die Angst um Schultern und Knie, und es tat gut zu wissen, dass ich zwischen meinen Eltern saß und der Tisch mich von vorne schützte. Er bemerkte mich nicht, meine Eltern starrten ihn halb fassungslos, halb peinlich berührt an, und schon kam der Wirt, redete auf ihn ein und führte ihn aus dem Zimmer.

Das war die letzte Begegnung. Etwa zehn Jahre später nahm sich der Sohn des Lehrers das Leben. Man erzählte, er habe ihn selbst gefunden, von der Decke baumelnd. Ich könnte nicht sagen, ob ihn dieses Erlebnis endgültig gebrochen hat.

Ein Bekannter sagte einmal meinen Eltern, und ich war dabei, als er es erzählte, dass er sofort zum Lehrer gegangen war, nachdem er erfahren hatte, dass er seinen Sohn unterrichten würde, und ihm sagte: Wenn ich nur den leisesten Verdacht habe, dass Sie mein Kind anrühren, hetze ich Ihnen den Landesschulrat auf den Hals. Kriecherisch soll er beteuert haben, dass er natürlich niemals irgendetwas derartiges tun würde.

Ich studierte schon, als mir meine Mutter erzählte, dass der Lehrer sich zu Tode gesoffen hatte.

Manchmal denke ich, ich könnte auf den Friedhof gehen und auf sein Grab spucken. Es wäre es wert.

Wien, 1. August 2004

zwischenbilanz

das gejammer der kulturbetriebsbonzen über den niedergang der lesekultur, über das verschwinden des buches und den damit verbundenen untergang des abendlandes geht mir lang und eigentlich immer schon auf die nerven, vor allem wegen seiner verlogenheit. so wie die da sitzen, präsentieren sie sich immer als genau solche, die das lesen ohnehin nicht brauchen und es bestenfalls (bestenfalls!) sportlich angehen, als intellektuelle arbeit, die das denken schult, zumeist aber nur als mittel zum distinktionsgewinn und ausweis der tatsache, dass man noch immer genug zeit und nerv und muße habe, sich am abend oder gar unter tags hinzuhocken und sich zu konzentrieren, während der mob sich mit trash-tv ruhig stellt.

lesen war aber immer was für die schwachen und scheuen, für die, die mit dem leben nicht so zurecht gekommen sind, wie es verlangt wurde, für kinder, die mehr gespürt haben und vorsichtiger waren als die anderen und die damit irgendwo hin mussten. was wäre passiert, wenn dieses kind die möglichkeit gehabt hätte, den weg in die bücher zu wählen?

ich selber würde gern was lesen über die 90er-jahre, als alles science fiction war und die neugier aufeinander groß und alles in bewegung. und wie all das wieder verschwunden ist. ich denke an die popkultur-boys und an judith hermann, ihre wütenden oder melancholischen abgesänge auf die uneindeutigkeit und das verschwimmen, wir wussten vielleicht zu viel damals. all is full of love.

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